Christian Boltanski (1944 – 2021)

Kaum ein Begriff wird so viel hin und her gewälzt, definiert und wieder definiert, wie »Kunst«. Kunst kommt von Können. Die etymologische Bedeutung ist relativ sicher. Der Rest verschwimmt in einem Nebel von Worten. Die Folge: Niemand weiß mehr, was Kunst wirklich ist. Ist eine Suppendose Kunst, weil sie von Andy Warhol auf einen Sockel gestellt und zur Kunst deklariert wurde? Ist ein Rahmen, in dem lediglich ein »Gemälde« mit einheitlich schwarzer Farbe zu sehen ist, Kunst? Warum denn nicht? Trennt man den Begriff »Kunst« von ihrem Wert, tut man sich leichter. Kunst muss nichts wert sein. Aber auch mit dem Begriff »Wert« kann man sich schwertun. Die Suppendose von Andy Warhol ist viel wert. Ist sie das? In Geld gemessen ja. Und sonst? Geschmacksache! Sie ist insofern viel wert, da Warhol damit demonstriert hat, dass alleine die Betrachtung eines Objekts, dieses zur Kunst machen kann. Die Wolke am Himmel, in der man zwei sich mit Stricknadeln bekämpfende alte Damen sieht, wird durch die Betrachtung ebenso zur Kunst wie die Suppendose eines Andy Warhol.

Die Sandburg, die der Dreijährige am Strand baut, motiviert seine Eltern zu Begeisterungsstürmen. Viel wert? Emotional gesehen schon, auch wenn die Flut das Kunstwerk wieder vernichtet und niemand bereit wäre, dafür Geld auszugeben. Am besten ist es meines Erachtens, man kümmert sich weniger um die Begrifflichkeit und fragt sich: Ist mir persönlich dieses Objekt etwas wert, ist es für mich Kunst? Und da ich Kunst liebe, hier vorweg, wann mir Kunst etwas wert ist.

Ein Gemälde kann schön sein, aber sonst keinen Inhalt haben. Dann ist mir das Gemälde als Schmuck an der Wand etwas wert, so wie der Schädel aus Keramik, den ich aus Mexico als Erinnerungsstück im Regal stehen habe.

Eine andere Qualität hat für mich Kunst, die meine Seele, falls ich denn eine habe, anspricht. Das sind meist Werke, die sich den Grundfragen des Menschseins widmen. Die Toteninsel von Arnold Böcklin ist so ein Beispiel. Wer vor dem Gemälde steht und sich auf es einlässt, der wird es auch ohne kluge Interpretationen verstehen. Mich reizen Künstler zum Naserümpfen, die glauben, der Rest der Welt, also wir alle, müssten ihre individuelle Sprache lernen, um ihre Werke zu verstehen. Es geht auch heute noch anders. Den Beweis dafür tritt ein faszinierender Künstler an, nämlich Christian Boltanski.

Als wir nach Paris gefahren sind, um eine Ausstellung von Boltanski zu sehen, sind wir in einen abgedunkelten Raum getreten. Vor (künstlichen) Fenstern hingen weiße Vorhänge, die ein Ventilator in den Raum blies. Im Zentrum standen kleine Betten mit weißem Bettzeug, das den Geruch eines Krankenhauses verbreitete. Die Beleuchtung bestand aus nichts als dünnen Neonröhren, die ein blasses Licht verbreiteten. Es war nicht nötig, etwas zu erklären. Dass die meisten Besucher sofort verstanden, worum es ging, war unschwer zu bemerken: Sie verschwanden so schnell es ging aus diesem Raum. Boltanski stellte mit diesem Raum das anonyme Sterben in einem Krankenhaus dar. Boltanski hatte übrigens die Bettwäsche tatsächlich aus Krankenhäusern beschafft.

Ein anderes Werk von Boltanski, das er öfter installierte, ist ein Zimmer, auf dessen Boden Berge alter Kleidung aus Altkleidersammlungen liegen. Wer den muffigen Geruch wahrnimmt und das bunte, schäbige Wirrwarr sieht, fühlt, dass sich in diesem Zimmer die Geschichten vieler Menschen zusammenballen. Boltanski macht Menschliches sinnlich erfahrbar, ohne dass es dazu größerer Erklärungen bedarf.

Fasziniert bin ich auch von jenen Werken, die unsere irdische Existenz darstellen. Eine riesige Wand mit Schwarz-Weiß-Fotos, die aus der Ferne monoton aussieht. Langweilig. Fast alle Besucher treten näher an die Wand und betrachten die Fotos aus der Nähe. Was zuvor eintönig erschien, sind plötzlich Gesichter, und diese Gesichter erzählen, jedes für sich, eine Geschichte. Wir sind alle gleich, werden geboren, durchleben die gleichen Lebenszyklen, sterben, ohne dass man sich an unser Leben erinnern wird. (vgl. die Skulptur von Frau Lehmann-Asperg, »Die Gesichts- und Geschichtslosen«). Betrachtet man unser Leben näher, so ist jedes anders und verdient es, erzählt und gelebt zu werden.

Wenn es Ihnen so geht wie mir, lassen Sie sich von Boltanskis Werk inspirieren und schaffen Sie Werke, die diese Gedanken ebenfalls ausdrücken. Ich sammle, wie er, alte Fotoalben, Fotos Verstorbener, die ich nicht kenne, und ich liebe es, Hausfassaden zu fotografieren. Die Menschen darin scheinen keine Individualität zu besitzen, die Fenster sind einheitlich grau. Doch schaut man genauer hin, so entdeckt man, dass in einem Fenster Wäsche getrocknet wird, aus einem anderen blickt eine Frau ins Leere, in einem weiteren sind liebevoll arrangierte Blumen zu sehen usw. usf.

Hausfassade an der Kaiserallee in Karlsruhe

Tun wir es Christian Boltanski gleich. Stellen wir die Dinge dar, die uns alle bewegen, die uns unterscheiden, und die uns gleich machen.