Ginkgo Biloba von Goethe

Ginkgo Biloba

Dieses Baumes Blatt, der von Osten
meinem Garten anvertraut,
gibt geheimen Sinn zu kosten,
wie’s den Wissenden erbaut.

Ist es ein lebendig Wesen,
das sich in sich selbst getrennt?
sind es zwei, die sich erlesen,
dass man sie als eines kennt?

Solche Fragen zu erwidern
fand ich wohl den rechten Sinn.
fühlst du nicht an meinen Liedern,
dass ich eins und doppelt bin ?

Johann Wolfgang von Goethe 1815
(1749 – 1832)

Man muss nicht alles von Goethe mögen, nur weil es von Goethe stammt und man befürchtet, sich sonst des Banausentums beschuldigt zu sehen. Ich mag beispielsweise seine Märchen nicht. Mir scheint es, dass sie mit dem Kopf geschrieben wurden. Gute Märchen kommen von innen, ohne dass der Autor im ersten Augenblick weiß, was er erzählt. Auch andere Beispiele sind für mich typisch für eine blinde Verehrung anerkannter Kreativgötter. Picasso als Keramiker ist meines Erachtens ein Hobbykünstler vom Feinsten. Nicht mehr. Nicht weniger.

Doch warum füge ich dieses Gedicht von Goethe, zu meiner »gefundenen Kunst« hinzu, wo es doch so etwas Banales, wie das Blatt eines Ginkgo Biloba Baumes behandelt. Und nein, es ist auch nicht die besondere sprachliche Schönheit des Gedichts, obwohl diese durchaus gewürdigt werden kann.

Das Gedicht zeigt, wie selbst so etwas Banales wie das Blatt eines Baumes zum Kunstwerk werden kann. Das Blatt hatte von seiner Zukunft sicher eine andere Vorstellung, als auf dem Schreibtisch eines Herrn Goethe zu landen, der es grübelnd und worteschmiedend zwischen seinen Händen hin und her wiegt. Das Kunstwerk ist, was Herr Goethe in dem Blatt sieht, nicht das, was das Blatt wirklich ist. Ein Biologe würde ganz andere Dinge am Blatt erkennen, beispielsweise Insektenstiche oder einen leichten Pilzbefall.

In der Trennung des Blattes und der Verbindung seiner beiden Teile eine Analogie zu einem in Liebe verbundenen Paar zu sehen, das ist das Erschaffen eines Kunstwerkes.

Deshalb: Kunst entsteht in der Vorstellungswelt des Betrachters.