Warum fasziniert mich gerade diese Skulptur der Künstlerin Helena Müller? Vorweg: Die vierbrüstige Flussgöttin sonnt sich ist meines Erachtens ein weiteres Highlight des Skulpturenweg Pfinztals. Mein größtes Interesse in der Kunst gilt der Vergänglichkeit. Davon ist auf den ersten Blick wenig wahrzunehmen. Auf den zweiten übrigens auch nicht. Ein anderes Thema in meinem Leben ist und war schon immer die Emanzipation der Geschlechter. Fasziniert von dem Kunstwerk bin ich durch die große Anzahl von Archetypen, mit denen die Künstlerin spielt. Ein Archetyp ist ein Urbild des Seelischen, das in unserem kollektiven Unbewussten verankert ist, das heißt, wir können die Bedeutung eines Archetyps er-fühlen und begegnen ihm nicht nur in der Kunst, sondern häufig auch im Traum.
Bei der Skulptur erregt sofort eine nackte Frau, die auf einem Phallus liegt, die Aufmerksamkeit des neugierigen Betrachters. Bei einem solchen Ensemble an Archetypen und Erotik, wer könnte da achtlos vorübergehen? Die Künstlerin, Frau Helena Müller meint in meinen Augen völlig richtig, dass die Flussgöttin geradezu »machtvoll« auf einem Phallus reitet. Wow… so viel Ehrlichkeit in der Eigeninterpretation ist beachtenswert! Was aber verleiht der Dame ihre Macht? Sie ist nackt und sie hat mehre Busen. Es liegt der Gedanke nahe, dass sie mit ihrer Sexualität über den Mann herrscht. Es gibt einen üblen Spruch über das Verhältnis der Geschlechter, der dem böswillig interpretierenden Mann, in diesem Fall mir, sofort in den Sinn kommt: Eine Frau muss sich nur beim richtigen Mann auf den Rücken legen, und sie ist versorgt für ihr ganzes Leben. Es gibt noch einen vulgäreren Spruch, den ich dem geneigten Leser aber ersparen möchte. Es ist also möglich, dieses Werk als Kritik an einem überkommenen Frauenbild zu sehen. Das lässt sich belegen: Sie liegt auf dem Rücken, und zwar gegen den Strom. Sie kann also nicht sehen, wohin die Reise geht, noch was hinter ihr liegt, sie schaut ja in den Himmel. Damit überlässt sie ihr Leben dem Phallus, dem Mann. Handelt es sich überhaupt um eine Reise, welches wiederum ein Archetyp des Lebens wäre? Ich denke schon, denn, wie ich bereits beim Fangnetz ausgeführt habe, Flüsse sind ein Archetyp für das Leben.
Neben der Funktion des Busens als Objekt männlich-sexueller Begierde drückt er auch Fruchtbarkeit aus. Dass die Fruchtbarkeit eine große Rolle spielt, zeigt sich dadurch, dass die Dame offenkundig schwanger ist. Damit werden zwei Funktionen des weiblichen Körpers dargestellt: Sexualität und Fruchtbarkeit. Die liegende Position entgegen der Bewegung des Flusses drückt Passivität aus. Jetzt bleibt lediglich der Fisch auf der Stirn zu deuten. Da die Stirn gerne als Hort des Denkens gesehen wird, muss man sich nicht zwangsläufig der Deutung als Kühlung durch den Fischleichnam (die wenigsten Fische würden einen längeren Aufenthalt an der Stirn einer Frau überleben) anschließen. Da der Fisch an dieser Position unsinnig ist, geschweige denn gut riecht, muss er jenseits des Realen eine andere Bedeutung haben. Fragen wir deshalb danach, welche archetypische Funktion Fische haben. Und da finden wir in klugen Büchern, dass Fische ein Symbol von Leben und Fruchtbarkeit sind, aber sie sind auch ein Symbol des Phallischen. Nun wagt man sich nicht auszudenken, was es bedeutet, dass die Dame den Fisch an die Stirn hält: Denkt sie nur an das Eine? Ist all ihr Denken auf das Leben im Sinne von Fruchtbarkeit gerichtet? Man möge sich die Bedeutung selbst suchen. Dass sie sich mit einem Fisch Kühlung an der Stirn verschaffen will, erscheint mir selbst für eine Göttin seltsam zu sein, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass sie sich in einem Fluss bewegt, der ihr ohne Probleme und ohne den Mord an einem Fisch, ständig Kühlung verschaffen könnte.
Jetzt sollte man bei der Interpretation den Titel, der sich der Künstlerin wohl aufgedrängt hat, einbeziehen. Widerspricht er dem bisher Interpretierten? Ich denke nicht. Die Dame sonnt sich. Und schon taucht ein neuer Archetyp auf: die Sonne. Nicht erst seit der Mozartoper Die Zauberflöte ist bekannt, dass die Sonne den Vater, den Mann symbolisiert, so wie der Mond die Frau, die Mutter. Lediglich im Deutschen ist der Begriff Sonne weiblich und Mond männlich. Nehmen wir also die Sonne als Männer- und Vätersymbol, so sonnt die Göttin sich in der männlichen Bewunderung, sie ist ja schließlich eine Göttin. Was bleibt uns Männern da anderes übrig, als Bewunderung? Der Kreis schließt sich.
Ist das, was sich mir als Interpretation aufdrängt, auch das, was sich die Künstlerin gedacht hat? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Gute Kunst wird aus dem Bauch heraus gemacht und wächst über den Künstler hinaus. Das habe ich bereits bei der Toteninsel erwähnt und ist auch bei guten Märchen der Fall. Ist der Kopf mit im Spiel, wird Kunst schnell banal. Für mich ist die Skulptur eine Kritik an dem (hoffentlich) überkommenen Frauenbild, welches das weibliche Geschlecht auf Sexualität und Fruchtbarkeit reduziert. Und nicht zuletzt ist es für mich eine Kritik an Frauen, die ihr Leben und ihr Dasein an einen Mann übergeben und sich in Passivität zurückziehen, sich in seiner Großartigkeit sonnen. Wird man als Frau in einem solchen Leben glücklich? Der zufriedene Gesichtsausdruck scheint dies zu bestätigen. Doch, oh weh! Sie hat die Augen geschlossen! Was ist, wenn ihre sexuelle Attraktivität schwindet und ihre Fruchtbarkeit keine Rolle mehr spielt?
Die Künstlerin, Frau Helena Müller, und ich, wir haben uns über diese Interpretation per E-Mail ausgetauscht. Hier die Anmerkungen der Künstlerin:
»Es ist ja genau so, wie Sie es sagen, dass ich als Künstlerin nicht interpretiere, sondern Bilder gestalte und das Bild, das geschaffen werden wollte, war damals eben genau so.
Die Frage nach dem kleinen, zwangsläufig toten Fisch, den die ‚Göttin‘ auf ihrem Kopf (für eine kurzfristige Abkühlung? Oder als modisches Beiwerk?) geopfert hat, stellt sich in der Tat – und ist vielleicht ein Ausdruck ihrer gewissen rücksicht-(s)-losen Dekadenz …«
»Nun, ganz so sehr auf unsere profane Welt würde ich das Thema dann doch nicht herunterbrechen und die Skulptur als eine grundsätzliche Kritik an einer herkömmlichen Familienstruktur sehen – so habe ich Ihre Interpretation auch nicht verstanden, sondern grundlegender, archetypischer.
Ohne Frage könnte der phallische Fisch seine ‚Diva‘ auch mit Leichtigkeit abwerfen – was er nicht tut und anscheinend kann sie sich darauf verlassen … es sind also wohl beide am Geschehen beteiligt und scheinen jeweils einen Vorteil davon zu haben.«
»Die Flussgöttin und ihr Fisch – ich sehe die beiden auch mit einem gewissen Humor. Und so, wie er sie jederzeit abwerfen könnte, könnte auch sie jederzeit den Kopf wenden, aufstehen, abspringen oder was auch immer. Sie ist hier nicht das Opfer der Situation.
Gesellschaftlich betrachtet gebe ich Ihnen völlig recht, Frauen sind nicht per se die Opfer der Gesellschaft, sie haften diesem Gefühl allerdings gerne an und das macht die Angelegenheit so unangenehm, denn so lange Frauen sich als ‚Opfer‘ definieren, auch wo sie es nicht sind, bezichtigen sie kollektiv Männer, ‚Täter‘ zu sein. Das führt zu sehr viel Unfrieden zwischen den Geschlechtern, der in diesem Fall von Frauen ausgeht.«
»Wenn man die Skulptur einmal aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten möchte, dann trägt der phallische Fisch, die nährende (4 Brüste) und Leben gebende ‚Göttin‘ (der Fruchtbarkeit?) zielgerichtet und sicher durch die Fluten.