Was ist Kunst? Ich weiß es nicht, und je mehr ich mich mit diesem Begriff befasse, umso mehr verschwimmt seine Bedeutung für mich. Kunst kommt ursprünglich von Können. Aber hat das heute noch Gültigkeit? Gälte ein Cover- oder Tapetendesigner heute als Künstler? Für mich schon, aber für die Kunstwelt? Ich weiß es nicht. Und sind Musik, Poesie und Literatur auch Kunst? Musik, Poesie und die restliche Literatur arbeiten mit Gefühlen, schaffen Vorstellungen, es entstehen Bilder im Kopf und lassen uns auch kreativ werden, wenn wir die Werke nur konsumieren. Für mich gibt es keinen qualitativen Unterschied (mehr?) zur Bildenden Kunst. Und so will ich den Beginn eines Liedes von Ana Belén mit dem Titel: »Desde mi libertad«, interpretieren.
Hier die ersten Zeilen:
Sentada en el andén, mi cuerpo tiembla y puedo ver, que a lo lejos silba el viejo tren como sombra del ayer.
Auf dem Bahnsteig sitzend, zittert mein Körper und ich kann sehen, dass in der Ferne der alte Zug pfeift, wie ein Schatten des Gestern.
In diesen Strophen scheint nichts zu stimmen. Da sitzt eine Frau am Bahnsteig und ihr Körper zittert. Sie kann sehen, dass in der Ferne der (wieso »der« und nicht »ein«?) alte Zug pfeift wie ein Schatten von gestern. Züge pfeifen, normalerweise hört man das, aber sie sieht es. Da der bestimmte Artikel verwendet wird, ist es »ihr« Zug, ein Zug, in dem sie einst saß. Der Zug entfernt sich und er gibt ein letztes Signal von sich. Bei Dampfloks wurde das Pfeifen durch Dampf erzeugt, war also wie eine schmale Wolke zu sehen. Dieses letzte Pfeifen ist wie ein Schatten des Gestern, der sie zittern lässt. Das Zittern weist uns auf einen Schmerz hin, der mit dem Verschwinden des Zugs einher geht.
Was ist passiert, was können wir hinter diesen rätselhaften Zeilen vermuten? Eine Frau hat mit etwas Schluss gemacht oder sie wurde verlassen. Vielleicht ist ihr Partner gestorben. Jetzt schaut sie zurück und irgendetwas erinnert sie an die vergangene Zeit, an das Gestern, es ist ein letztes Signal, bevor der Zug endgültig verschwindet, das Vergessen einsetzt. Es könnte ein Telefonanruf gewesen sein, ein Foto, das ihr in die Hände fiel, und das sie nun in den Müll gibt. Wir wissen es nicht.
Faszinierend ist in dem Lied auch die Darstellung des Zugs als Archetyp für ein bestimmtes Leben. Sie ist aus dem Zug ausgestiegen, sie hat ihr Leben verändert. »Im Zug sitzen« als Bild für das Leben bedeutet nichts anderes, als in seinem freien Willen eingeschränkt zu sein. Die Richtung kann nicht verändert werden, es geht schicksalsmäßig weiter, ob man möchte oder nicht. Doch es gibt Bahnhöfe. Haltestellen, an denen man den Zug verlassen kann. Viele Menschen finden nicht die Kraft dazu, aus einer deprimierenden Lebenssituation auszusteigen und oft ist dieser Zug auch eine Krankheit, die zum Tod führen kann, wenn es der Medizin nicht gelingt, den Passagier aus dem Zug herauszuzerren.
»Desde mi libertad« von Ana Belén handelt von einer Frau, die (wieder) auf sich selbst gestellt ist und lernen muss, nicht mehr die Hälfte eines Paares zu sein. Sie fühlt sich nackt, also verletzlich, weiß aber, dass sie die Kraft hat zu fliegen, alles hinter sich zu lassen. Wartet sie auf dem Bahnsteig auf einen neuen Zug? Auch das wissen wir nicht.
In der geschlossenen Pfinztaler Crossiety-Gruppe »Spanisch zum Lernen und zur Freude« werde ich das Lied zum Spanischlernen aufnehmen.