Die Gesichts- und Geschichtslosen

Ein Werk von Frau Lehmann-Asperg auf dem Skulpturenweg Pfinztal

Die Vergänglichkeit unseres Lebens ist vermutlich schon seit es die Kunst gibt eines ihrer zentralen Themen. Auch im Barock (1600 – 1720) hat man sich mit dem Leben und der Vergänglichkeit intensiv auseinandergesetzt. Das ist kein Wunder, waren doch die Schrecken des 30-jährigen Kriegs allgegenwärtig. Hier drei Gedichte als Beispiel:

Betrachtung der Zeit – Gryphius (1616 – 1664)

Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen,
mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen.

Der Augenblick ist mein,
und nehm ich den in acht,
so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.

Vergänglichkeit

Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn,
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach, was ist alles dies, was wir für köstlich achten,
Als schlechte Nichtigkeit, als Staub und Wind,
Als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder findt!
Noch will, was ewig ist, kein einzig Mensch betrachten.

Für jene, die des Englischen mächtig sind, ein Gedicht von Francis Quotes (1592 – 1644)

The world’s an Inn; and I her guest.
I eat, I drink, I take my rest.
My hostess, nature, does deny me
nothing wherewith she can supply me.
Where having stayed a while, I pay
her lavish bills, and go my way.

Verlassen wir den Barock und sehen uns ein Gedicht von Jorge Manriques (1440 -1492) an. Er hat in Coplas por la Muerte de su Padre (Verse zum Tod seines Vaters) ein großes Werk der spanischen Literatur geschaffen. Hier ein kleines Gedicht:

La vida son los rios
que van a dar a la mar
que es el morir.

Nicht vergessen möchte ich ein Gedicht, das näher an der Gegenwart liegt, und sehr gut zu der Skulptur von Frau Lehmann-Asperg passt (deshalb übersetze ich es; bitte nicht irritiert sein, ich übersetze es nach der interlinearen Methode, d.h. Wort für Wort, denn die Übersetzung wird einem Gedicht ansonsten nie gerecht).

Caminante von A. Machado (1875 – 1939)

Caminante, son tus huellas
el camino y nada más.
Caminante, no hay camino
se hace camino al andar.
Al andar se hace el camino,
y al volver la vista atrás
se ve la senda que nunca
se ha de volver a pisar.
Caminante, no hay camino
sino estelas en la mar.

Wanderer

Wanderer, es-sind deine Spuren der Weg / und nichts mehr. / Wanderer, nicht es-gibt Weg. / Man macht Weg beim Gehen. / Beim Gehen man macht Weg / und beim Drehen den Blick zurück, / man sieht den Pfad, den nie / man hat <> wieder zu betreten. / Wanderer, nicht es-gibt Weg, / sondern Kielspuren in der See.

(die Strophen sind beibehalten, getrennt durch einen Schrägstrich, die formal zentrierte Gedichtform nicht, da die Übersetzung schwerlich für sich beanspruchen kann, ein Gedicht zu sein)

Was aber hat das alles mit der Skulptur von Frau Lehmann-Asperg zu tun?

Alleine der Titel der Skulptur »Die Gesichts- und Geschichtslosen« erinnert an die zwei letzten Strophen des Gedichts Caminante: Unser Weg auf dieser Erde wird durch unser Gehen gemacht, aber dieser Weg, die Erinnerung an uns, das alles verschwindet, unser Weg ist nicht mehr als eine Kielspur. Der Archetyp Meer steht für das Leben UND den Tod (vgl. Jorge Manrique). Frau Lehmann-Asperg hat als Ausdruck unterschiedlicher Vergänglichkeit dessen, was den Weg eines Menschen auf der Erde ausmacht, verschiedene Materialien, nämlich Edelstahl und rostenden Stahl verwendet. Ein Da Vinci wird eine lange Kielspur durch die Geschichte der Menschheit, durch die Jahrhunderte, ziehen, bis auch er endlich vergessen sein wird. Wir normale Menschen werden vielleicht ein, zwei Generationen noch in Erinnerung bleiben. Es wird von uns noch Fotos geben, von denen bald niemand mehr weiß, wer auf ihnen festgehalten wurde.

Alleine der Titel der Skulptur »Die Gesichts- und Geschichtslosen« erinnert an die zwei letzten Strophen des Gedichts Caminante: Unser Weg auf dieser Erde wird durch unser Gehen gemacht, aber dieser Weg, die Erinnerung an uns, das alles verschwindet, unser Weg ist nicht mehr als eine Kielspur. Der Archetyp Meer steht für das Leben UND den Tod (vgl. Jorge Manrique). Frau Lehmann-Asperg hat als Ausdruck unterschiedlicher Vergänglichkeit dessen, was den Weg eines Menschen auf der Erde ausmacht, verschiedene Materialien, nämlich Edelstahl und rostenden Stahl verwendet. Ein Da Vinci wird eine lange Kielspur durch die Geschichte der Menschheit, durch die Jahrhunderte, ziehen, bis auch er endlich vergessen sein wird. Wir normale Menschen werden vielleicht ein, zwei Generationen noch in Erinnerung bleiben. Es wird von uns noch Fotos geben, von denen bald niemand mehr weiß, wer auf ihnen festgehalten wurde.

Der Edelstahl der Skulptur wird lange erhalten bleiben, die rostenden Schatten aber bald erodieren und als Staub vom Wind in die Büsche der Umgebung verteilt werden. Auch die Schattenfiguren haben ihre Bedeutung. Wir wissen durchaus noch einiges von Da Vinci. Doch ist das mehr als ein Schatten dessen, was Herrn Da Vinci als lebenden Menschen ausgemacht hat? Wohl kaum!

Ein spanischer Autor und Philosoph hat einmal gemeint, dass wir Korallen gleichen. Jeder von uns baut einen kleinen Teil des riesigen Korallenstocks auf, den man Zivilisation oder Kultur nennen kann. Unseren individuellen Beitrag aber, der wird im Ganzen verschwinden.

Ich empfinde die Auseinandersetzung mit diesen Perspektiven auf das menschliche Leben faszinierend. Die absolute Vergänglichkeit unserer irdischen Existenz hat nämlich nicht nur einen traurigen Aspekt. Dazu ein fiktives Beispiel (d.h. keine Anregung zu einem Flash-Mob ☺). Was wäre, wir würden uns auf dem Europaplatz treffen, uns nackt ausziehen und mit roten Fahnen durch Berghausen springen, indem wir unsere Forderung nach freier Liebe herausbrüllen? Wir kämen in den BNN, wir wären Tagesgespräch in Karlsruhe und Umgebung. Und in fünfzig Jahren? Niemand würde sich an uns erinnern, es gäbe nichts mehr, was zu schämen übrigbliebe. Die Vergänglichkeit ist nicht nur traurig, sie macht uns auch frei.

Noch eine kleine Anregung zum Thema. Wenn Sie das nächste Mal auf einen Flohmarkt gehen, suchen Sie nach alten Fotoalben. Suchen Sie nichts Spektakuläres, keine Fotos von Soldaten vor Stalingrad oder ähnliches. Einfach nur Fotoalben. Wie kam es, dass diese Alben auf einem Flohmarkttisch landeten? Ein Mensch ist einsam gestorben, von ihm ist mit dem Album nur eine dünne Schicht seiner Kielspur verblieben. Behandeln Sie die gefundenen Alben und Fotos mit Respekt. Irgendwann teilen wir alle das Schicksal des Menschen, dessen Fotos wir vor uns sehen.

Albumblatt. Bitte beachten Sie das Datum.