Im Spiel der Wellen von Arnold Böcklin

Kann man über Interpretationen unterschiedlicher Meinung sein? Ganz gewiss! Herr Drewermann interpretiert beispielsweise das Märchen Dornröschen als eine Befreiung des Mädchens vom Vater. Ich habe mir für mein Buch Von Wölfen, Wäldern und wehrlosen Jungfrauen, im Selbstverlag bei epubli, 2021 erschienen, die Mühe gemacht und gezählt, wie oft der Vater in dem Märchen alleine vorkommt. Zwei Mal, so oft wie die Mutter. Danach treten Mutter und Vater nur noch als Elternpaar Dornröschens auf. Einmal wird geäußert, dass er, der Vater, »vor Freude sich nicht zu lassen wusste«, obgleich er wohl kaum die Ehre hatte, der leibliche Vater Dornröschens zu sein. An späterer Stelle wird erwähnt, dass sie sein liebstes Kind war… und das war’s. Woher Herr Drewermann seine Interpretation nimmt, das wird wohl sein Geheimnis bleiben. Aber so ist es nun einmal mit der Kunst: Jeder kann in allem sehen, was er möchte.

Ein ähnliches Schicksal hat Das Spiel der Wellen, ein Gemälde Arnold Böcklins ereilt. In dem Buch In uns selbst liegt Italien – Die Kunst der Deutsch-Römer, Hrsg. Christoph Heilmann, Hirmer-Verlag München, 1987, ist zu lesen: »So sind die Interventionen der Wassermänner im Spiel der Wellen unzweideutig, was Alfred Koeppens Beschreibung von 1902 bestätigt: „Ein wohlbeleibter Centaur verfolgt ein reizendes Meerweibchen, das sich vor dem älteren Herrn fürchtet und gewiss nicht mit Unrecht, sollen doch ältere Herren für jugendliche Reize nicht ganz unempfindlich sein.“« Der Aussage, dass auch ältere Herren für jugendliche Reize empfänglich sind, kann man schwerlich widersprechen.  Jedoch: Kann dieses reizende Meerweibchen schwimmen? Wir dürfen es wohl annehmen. Wird sie schneller schwimmen als der freundliche aber beleibte und nicht mehr ganz so junge Herr, der sie gutgelaunt anlacht? Auch dessen dürfen wir gewiss sein. Zeugt das Ambiente des Geschehens von einer versuchten Vergewaltigung oder auch nur von einer kritischen Situation, in der diese junge Dame von einem üblen alten Mann bedrängt wird? Die vermutlich befreundeten Damen im Hintergrund amüsieren sich prächtig mit dickwanstigen älteren Meeresbewohnern. Würden sie der Meerjungfrau nicht beistehen, wäre sie in Bedrängnis? Ich denke, das würden sie. Zumindest würden sie nicht unbekümmert mit der feuchten Männerwelt weiterspielen.

Wenn man das unbedingt möchte, dann könnte man den Blick des Mädchens als einen verzweifelten Ruf nach Hilfe an den Betrachter interpretieren. Nur: Ist Ihnen aufgefallen, an was die junge Dame sich festhält, obwohl es ihr sicher ein Leichtes wäre, sich ohne Hilfe über Wasser zu halten? Ja, sie hat ihren linken Arm um den netten älteren Herrn gelegt. Mit ihrem rechten Arm macht sie eine Bewegung, die sie eher auf den Mann zuschwimmen lässt, als dass sie sich damit von ihm entfernt.

Allerdings lässt es sich nicht wegdefinieren, dass sie uns nicht gerade fröhlich anblickt. Ich erkenne in ihrem Blick Angst. Aber sie schaut nicht den Dicken ängstlich an, den umarmt sie lediglich. Sie schaut uns an, die Betrachter des Gemäldes.  

Jeder von uns, der auf dem Dorf lebt, weiß, was das zu bedeuten hat. Sie hat in der Tat Angst vor dem Urteil des Betrachters, lässt sie sich als junges Mädchen doch mit einem alten Mann ein. Fürchtet sie, dass wir sie moralisch verurteilen? Mir erscheint dies logischer zu sein, als dass sie sich auf der Flucht vor dem alten und erotisch erregten Mann befindet.

Das Gemälde von Böcklin war seinerzeit weltbekannt und befindet sich in der Pinakothek in München. Der Künstler versteht es meisterhaft, die Transparenz des Wassers wiederzugeben. Was mich bei vielen seiner Werke aber besonders beeindruckt: Er bildet Stimmungen, Situationen so plastisch ab wie kaum ein anderer Künstler. Dazu benutzt er nicht die edlen Götter des Olymps, wie viele andere Maler. Er rückt Faune und Meeresbewohner, also niedere mythische Figuren in den Vordergrund. Vermutlich lassen sich in seiner Zeit auf diese Art schwierige zwischenmenschliche Konflikte tabuloser darstellen.

Es lohnt sich, sich auf sein Werk einzulassen, auch wenn vieles von ihm nur in seiner Zeit gewürdigt werden kann. Und nein, kein Künstler ist perfekt, auch er nicht. Demnächst werde ich mich mit seinem Werk In der Gartenlaube auseinandersetzen.